Am 2. März 2015 von meiner Schwester Gertrud geschenkt bekommen: ein altes Buch, ziemlich verratzt, einst ein Geschenk von Hanna Jehle an ihren Mann, Martin Friedrich Jehle, zum 29. Geburtstag am 3. Januar 1943. Auf den Vorsatz hat sie ein Gedicht geschrieben, das für die zweite ergänzte Auflage ihres Gedichtbandes nun natürlich zu spät kommt:
Uns sterbe nie der Kinder-Sinn, der unbeirrt den Himmel will und dabei lebt von Gottes Gaben, vergessen kann die eignen Plagen, wenn andren Hilfe nötig ist – Und der das weiß zu jeder Frist: Wir sind zutiefst bei Gott geborgen mit allem Glück und allen Sorgen!
Meinem Martin, der am Eismeer ist zum 3. 1. 1943.
[Auf dem Vorsatz von Auni Buoliwaara: Kleine standhafte Katri. Roman. Ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Haidi Hahm-Blåfield. Umschlag und Einband von Eva Schwimmer. 59.-78. Auflage. (1942). Copyright 1940 by Paul List Verlag Leipzig]
Ende Mai 2015 in einem Zeitschriftenjahrgang entdeckt: Hahn Gockels Leichenbegängniss. [Von Friedrich Rückert, für drei Kinderstimmen gesetzt von Joseph Anton Pflanz.] In: Sonntagsfreude. Herausgegeben von J.[oseph] A.[nton] Pflanz (Freiburg: Herder) Nr. 27, 5. Juli 1863, S. 212. Diese Zeitschrift erschien wöchentlich. Bis Nr. 26 (28. Juni 1863) heißt sie Sonntagsfreude für die christliche Jugend, ab Nr. 27. (5. Juli 1863) heißt sie lediglich noch Sonntagsfreude. Nachweise dieser Zeitschrift vor 1864 sind rar. Der Herausgeber Joseph Anton Pflanz (1819-1883) war Schriftsteller und Lehrer. Er und der Dichter gehen lediglich aus dem Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1863 hervor. Dort steht: „Hahn Gockels Leichenbegängniß, von Fr. Rückert, in Musik gesetzt vom Herausgeber (Nro. 27)“. Auf der Seite 212 mit der ganzseitigen Komposition sind weder Rückert noch Pflanz erwähnt, dem Titel folgt zwar ein *, am unteren Seitenrand heißt es dazu aber: „Für drei Kinderstimmen, einzeln und am Schluß mit einander. Die rezitativen Stellen können in den angegebenen Ackorden beliebig begleitet werden (mit dem Klavier), bei den Theilstrichen wird etwas pausirt oder angehalten.“
Anfang Oktober 2013 im Karlsruher virtuellen Katalog entdeckt: Der Prophet Elia. Sein Leben und Wirken. Von Pfarrer Chr.[istoph] Schulz Rielingshausen (Wttbg.). 1933. Christlicher Schriftenvertrieb der Gefangenen- und Schriftenmission J. Maar, Bamberg, 32 Seiten – seltsam, 1933 und „Gefangenenmission“? Soweit online nachweisbar, liegt das Heft weltweit lediglich in zwei Bibliotheken, und zwar in der Bayerischen Staatsbibliothek München und in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, wobei nur im Münchener Katalogeintrag darauf hingewiesen wird, daß dieses Heft ein Geleitwort von Friedrich Jehle enthält. Von diesem Geleitwort wußte man in der Familie nichts, während man die Postkarte, die Friedrich Jehle im Jahr nach Erscheinen des Heftes, 1934, als Dank für Gratulationen zu seinem 90. Geburtstag und zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, hat drucken lassen, gleich in mehreren Exemplaren findet, und natürlich auch die Schrift, die er als Dank für die Verleihung der Ehrendoktorwürde geschrieben hat: Zur Lutherbibel. Zwölf Einzelbilder gezeichnet von D. Friedrich Jehle (bei Belser in Stuttgart), 32 Seiten Umfang, wie Christoph Schulz‘ Heft über Elia. Es heißt, Friedrich Jehles geistige Kräfte hätten erst etwa zwei Jahre vor seinem Tod nachgelassen, und Friedrich Jehle ist 97 Jahre alt geworden: 1844 geboren, 1941 gestorben. Spontan in der Deutschen Nationalbibliothek eine Kopie des kompletten Heftes bestellt, Signatur 1933 A 12767, und kurz darauf entdeckt, daß das Heft just zu dieser Zeit antiquarisch zu bekommen und online zu bestellen ist. Man ist versucht zu denken: wie das Leben eben so spielt. Spöttisch natürlich. Aber derlei Koinzidenzen kommen, wenn man sich mit innerer Beteiligung in etwas hineinbegibt, gar nicht so selten vor. Also das Heft bestellt und sofort per Paypal bezahlt, damit nichts mehr dran zu rütteln sein sollte, und die Bestellung der Kopie bei der Deutschen Nationalbibliothek storniert. Ehe die Post das Originalheft brachte, kam die Mail von der Deutschen Nationalbibliothek: man liefere entweder eine Fotokopie per Post oder einen Scan auf CDrom – zu einem Preis allerdings, der etliche Euro höher lag als der Preis für das Original. Daß Originale im Computer-Zeitalter immer weniger geschätzt werden, dürfte sich allmählich herumgesprochen haben, ebenso daß die allergiegeplagte jüngere Generation solch alte Bücher nicht mehr aufschlagen kann, ohne von Reizhusten, Nießattacke oder Hautausschlag heimgesucht zu werden. Mir recht, dann kann ich die Originale immer billiger ergattern. Daran, gab der Leipziger Bibliothekar freundlich Auskunft, liege der hohe Preis für die Kopie aber nicht, sondern daran, daß die Bibliothek derlei Aufträge außer Haus vergibt, viele Bestände würden gar nicht im Haus selbst lagern. Im übrigen, schrieb er, sei inzwischen auch meine Stornierung eingetroffen. Paar Tage später brachte die Post das Original, und zwar so verpackt, wie man das von liebevollen Antiquaren kennt, also anders als meist bei Ebay, Booklooker oder ähnlichen Online-Märkten. Das Heft ist ziemlich verratzt, paar Eselsohren sind abgebrochen, das Papier ist also spröde, also holzhaltig, also stark gebräunt, trotzdem: es ist ein Original, und zu allem Überfluß liegen ein halbes Dutzend Zettel darin, von zierlicher Hand in schwarz und rot beschrieben, und da man nicht davon ausgehen kann, das seien Notate des Autors, und auch nicht des Geleitwort-Autors Friedrich Jehle – schließlich kenne ich seine Handschrift –, sind das also Lesefrüchte: da hat jemand mit dem Stift gelesen, und zwar extrem intensiv, wovon er das Heft selbst freundlicherweise verschont hat, was ja immer ein Zeichen der Bescheidenheit oder, wenn einem das lieber ist, der Klugheit ist: das Heft für einen anderen Blick erhalten, dem nächsten, der es liest, und sei es ein so später Nachfahre wie ich, nichts vor den Blick stellen, im wahren Sinn des Wortes: nichts vorschreiben. Was ja letztlich heißt: sich bewußt zu sein, daß die eigene Meinung nur eine von vielen Meinungen ist – eine Erkenntnis, die eben nicht bescheiden ist, sondern klug. Mögen andere, die sich ebenfalls klug dünken, ruhig spotten, aus Geschichte lerne man nichts als Geschichte. 1933 erschienen und ausgerechnet hellbraun eingebunden – man fürchtet Übles und schlägt das Heft zögernd auf: links (Titelblatt-Rückseite) ein „Vorwort!“ des Autors, datiert „Rielingshausen, den 5. September 1933“, rechts (auf Seite 3) das „Geleitwort!“ von Friedrich Jehle, datiert: „Degerloch, im September 1933“. Die Ausrufezeichen nimmt man etwas irritiert zur Kenntnis, die Datierung auf September 1933 kann die Befürchtung nicht besänftigen. Hilft alles nichts, man beginnt zu lesen. Natürlich zuerst Friedrich Jehles Text: „Hat die Gemeinde des Herrn in den letzten Jahrzehnten über den Verfall unseres Volkslebens geseufzt (Hes. 9, 4), so ist jetzt eine neue Zeit aufgebrochen, eine Kampfeszeit.“ Man seufzt ebenfalls. Aber ist der ehemalige Vorgesetzte von Landesbischof Theophil Wurm tatsächlich einfach umgefallen!? Weiter: „Man will dem Verfall wehren und das entkirchlichte und entchristlichte Volk zurückgewinnen.“ Wollte man das? Natürlich nicht! Jedensfalls nicht seitens der Nationalsozialisten. Weiter: „Handelt es sich ja doch nicht um äußere Machtmittel, sondern um ein Ringen der Geister in der ganzen Welt.“ Kleiner Hupf über eine eher unersprießliche Betrachtung der „Heidenwelt“, dann weiter: „Und vollends in der christlichen Welt! Da verschärft sich der Kampf so, daß es sich darum handelt, ob der volle biblische Christenglaube noch gelten oder ein urgermanischer Volksglaube an seine Stelle treten soll. So war es zur Zeit des Propheten Elia: Jehova oder Baal? Der geistlich-sittliche Gottesglaube und Gottesgehorsam oder eine sich selbst verherrlichende Naturreligion mit ihrer Blutleere?“So also, listig und klug, wie stets, nähert sich dieser Gelehrte seinem Anliegen! Erleichtert weiter: „Es scheint, daß der alt [!] böse Feind noch einmal seine ganze Macht aufbietet, dem Reich Gottes Abbruch zu tun.“ Die Nazis sind also Teufelszeug! „Drum kein Hinken mehr“, ruft er den Lesern nun offen zu, „es ist ein Entscheidungskampf wie dort auf dem Karmel.“ Dort auf dem Karmel fand bekanntlich die Machtprobe zwischen Elia (Jehova) und Ahab (Baal) statt, Elia hatte dem Volk zugerufen: „Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten? Ist Jehova Gott, so wandelt ihm nach, ist's aber Baal, so wandelt ihm nach.“ Elia (Jehova) gewannn und befahl dem Volk, die 450 gekommenen Baalspropheten zu töten, was auch geschah. „Dazu uns aufzurufen und mit scharfgeschliffenen Waffen des Offenbarungsglaubens uns persönlich und volksmäßig auszurüsten, will das vorliegende Büchlein dienen. Es ist blutiger Ernst: es handelt sich um die Zukunft unseres Volkes. Darum bitten wir:“ – was nun folgt, als Schlußwort sozusagen, dem nur noch Ort, Datum und Unterschrift folgen, stammt gewiß ebenfalls aus Friedrich Jehles Feder, man sagt, aus dem Stegreif habe er nach Belieben gereimt, stundenlang:
Gib Elia’s heilge Strenge, wenn den Götzen dieser Zeit die verführte, blinde Menge Tempel und Altäre weiht, daß wir nie vor ihnen beugen, Haupt und Knie, auch nicht zum Schein, sondern fest als deine Zeugen dastehn, wenn auch ganz allein!
Ein Blick nach links, zum „Vorwort!“ des Pfarrers Dr. Christoph Schulz aus Rielingshausen (paar Kilometer von Marbach entfernt): ja, genau so ist’s gemeint, und im Text schreibt Pfarrer Schulz dann: „Es gibt ja auch für des Teufels Sache entschiedene Leute, ‚Gottlose‘, die für die Sache eifrig Propaganda machen.“ (S. 12) Kurzum und zweifellos: die Juden sind die Auserwählten Gottes, und als Führer kann es nur einen einzigen geben, basta! Wer sich da selbst zum Führer ernannt hat, ist in Wirklichkeit der Teufel, der soeben dazu ansetzt, mit der völkischen Bewegung das Volk zu ruinieren. Auch wenn man nicht gläubig ist, kann man dem Geist, der aus Friedrich Jehles Vorwort spricht, den Respekt nicht versagen. Friedrich Jehle bedient sich des Vokabulars der Nazis letztlich nicht nur, um zu entschiedenem Widerstand aufzurufen, sondern zum Mord: tötet die Teufelsanbeter, wenn nicht gar zum Tyrannenmord: tötet den Teufel! Einziger, angesichts des Themas aber beinah nebensächlicher Einwand: die letzte Gedicht-Zeile ist Murks. Erst meint man, sie solle lauten, wie sie gemeint ist: „dastehn, sei‘s auch ganz allein.“ Aber auch so bliebe sie eine Notlösung: Viele, aber lauter Vereinzelte? Genug gemäkelt, dem großen Ganzen tut das keinen wesentlichen Abbruch. Dieses Heft wurde in der Familie also nicht aufbewahrt. Oder war Friedrich Jehle so klug, daß er es gar nicht erst ins Musikhaus geschickt hat? Sein Sohn Johannes, ein gläubiger Mann, Komponist zahlreicher geistlicher Lieder und Verfasser von fünf Heften Liturgische Feiern, lebte da noch. Womöglich wußte Friedrich Jehle genau: für einen Musikalienhändler war es überlebenswichtig, das HJ-Liederbuch ebenso überzeugend übern Ladentisch zu reichen wie ein Kirchengesangbuch oder ein christliches Chorheft. Übrigens: wenn Friedrich Jehle bis zwei Jahre vor seinem Tod geistig absolut auf der Höhe war, begann sein geistiger Abschied 1939, Kriegsausbruch.
(Unter dem Titel Die neueste Anschaffung für die Musikhistorische Sammlung Jehle ab Februar 2013 auf der Homepage, bis 27. April unter News, Events, seitdem unter Leseproben)
Das Newer vnd gemehret Gesangbuechlin, Darinn Psalmen, Hymni, Geistliche Lieder, Chorgesenge, Alte vnd newe Festlieder, sampt etlichen angehenckten Schrifftspruechen vnd Collect gebetlein, die be sonders fleisses jetz zů sammen bracht seind. Mit schoenen Figuren Hin vnd wider gezieret, vnd Reimensart gestellet. Getruckt zů Strasburg bey Thiebolt Berger, am Weinmarckt zum Treübel, Anno 1566.
Gemacht hat dieses Gesangbuch Martin Bucer (auch Butzer, 1491-1551), der Reformator Straßburgs und des Elsaß, er hat auch ein Vorwort dazu geschrieben. Die erste, noch deutlich schmalere Auflage ist 1545 erschienen, etwas dicker die 2. Auflage 1547. In der Bayeri-schen Staatsbibliothek München steht ein Exemplar der 3. Auflage 1559: komplett digitalisiert und online durchzublättern, noch um etwa 40 Seiten kürzer als die beiden nachfolgenden Auflagen. In der Stadtbibliothek Trier steht ein Exemplar der 4. Auflage 1562: bei gleicher Paginierung teils andere Randbordüren, außerdem kleinere, aber signifikante inhaltliche und textliche Unterschiede zur nachfolgenden Auflage. Von der 5. und letzten Auflage 1566 ist nirgendwo ein Exemplar nachgewiesen, außer ab jetzt in der Musikhistorischen Sammlung Jehle. Die bibliographischen Angaben entstammen Philipp Wackernagel: Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im XVI. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1855, Reprint Hildesheim 1961 und 1987, dort Nr. 876. Wackernagels Angabe des Umfangs: „[8] Bl., CCCXCIX, [1] S.“ = 399 Seiten + eine unpag. Seite (gewiß die Rückseite von S. 399). Eine Weltrarität also. Umso schmerzlicher die Tatsache, daß es sich um einen Torso handelt: ihm fehlen die Seiten 1-16, 111-112, 384-390, 395-399, womit also fehlen: das jedenfalls 1559 rot-schwarz gedruckte Titelblatt (Rückseite vakat; dem Trierer Expl. fehlt das Titelblatt ebenfalls), Bucers Vorwort, das Inhaltsverzeichnis, „Die Gloria patri“ und „Ein schöner Spruch des heiligen Apostels Pauli zůn Colossern am iÿ. Cap.“ mit einem Holzschnitt. Unser Expl. beginnt mit S. 17: „Der Erste theil dises Gesangbüchleins, haltet in sich etliche feine Hymnos, sampt tröstlichen Schrifftsprüchen, vnd kurzen Gebetlin, in jedem stucke gleich nachgesetzet.“ Der weitere Vergleich mit der Auflage 1559 zeigt: von den 19 Holzschnitten fehlt lediglich einer, mit den fehlenden Seiten im Inneren fehlt Text, es fehlen wohl auch Noten, am Ende fehlen der Schluß der Strophen des letzten Liedes und das Register. Der Umstand, daß gerade zu Beginn und am Ende Blätter fehlen, legt die Vermutung nahe, daß der Einband nach 400 Jahren desolat war oder gar fehlte, der Buchblock also lose war und Blätter fallen ließ. Um weiterem Verlust vorzubeugen ist das Buch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts neu in Leder gebunden worden. Das Vorhandene aber ist entzückend: jede Seite mit einer Holzschnitt-Bordüre eingefaßt, figürliche Holzschnitte und holzgeschnittene Noten zu Liedern von Johannes Agricola (1 Lied), Thomas Blarer (Blaurer) (1 Lied), Wolfgang Capito (2 Lieder), Wolfgang Dachstein (3 Lieder), Vitus (Veit) Dieterich (1 Lied), Johann Englisch (Anglicus) (2 Lieder), Matthias Greitter (7 Lieder), Erhard Hegewald (1 Lied), Sebald Heyden (1 Lied), Konrad Hubert (5 Lieder), Justus Jonas d. Ä. (1 Lied), Andreas Knöppen (1 Lied), Ludwig Oeler (2 Lieder), Adam Reisner (1 Lied), Lazar Spengler (1 Lied), Paul Speratus (1 Lied), Heinrich Vogtherr d. Ä. (3 Lieder), Burkard Waldis (12 Lieder), Michael Weis (Weiße) (1 Lied), Johann Zwick (3 Lieder), je 1 Lied von „L. S.“ und „S. H.“, 19 Lieder von „N. N.“ (unbekannt), die meisten stammen aber doch von Luther, nämlich 34 Lieder, z. B. „Ein Kinderlied auff die Weihenacht, Vom Kindlein Jhesu, Aus dem ij. Cap. Luce gezogen, Das älter gedicht. Durch D. Martin Luther. [Ab hier mit Noten, die bekannte Melodie:] Vom Himel hoch da kom ich her, Ich bring euch gůte newe meer, Der gůten meer bring ich so vil, Da von ich singen vnd sagen wil.“
(Die erste Fassung ist erschienen in meinem Buch Kunst und Leben, S. 46-49. Die aus Anlaß des 90. Geburtstags von Walter Jens (9. März 2013) überarbeitete Fassung stand ab 12. März 2013 auf Home und blieb nach dem Tod von Walter Jens (9. Juni 2013) als Nachruf bis 27. April 2014 dort stehen.)
Am 9. März, kurz vor 15 Uhr, betraten wir das Tübinger Hotel Krone. Hildesheimers waren noch nicht da. Während wir in der Rezeption warteten, malten wir uns aus, was wir tun sollten, falls sie nicht rechtzeitig kämen – die Hochzeit war auf 15.30 Uhr festgesetzt. Ein Desaster wäre durchaus möglich gewesen, schließlich waren die beiden nur deshalb in Tübingen, weil Walter Jens sechzigsten Geburtstag hatte, den er aber zweimal feiern mußte, eine Feier, an der Hans Mayer teilnahm, die andere, an der Marcel Reich-Ranicki teilnahm. Nur Hildesheimer nahm an beiden teil, weil er, wie er gesagt hatte, mit beiden konnte, mit Mayer und Reich-Ranicki. Darin lag die Gefahr des Desasters aber gar nicht, sondern darin, daß Hildesheimers zwischen den beiden Feiern für uns Zeit reserviert hatten; wir hatten unsere Hochzeit extra so gelegt. Doch kurz nach 15 Uhr kamen sie. Silvia Hildesheimer meinte, wir seien ja überpünktlich, Wolfgang Hildesheimer fragte: „Wird schon geheiratet?“ Sie trugen den Ordner mit Reproduktionen seiner Bilder, den ich aus meinem Hildesheimer-Archiv mitgebracht hatte, ins Zimmer hinauf. Er kam als erster wieder herunter und brachte ein flaches Päckchen mit, in rosa Seidenpapier eingeschlagen, nicht ganz quadratisch. „Das ist mein Hochzeitsgeschenk. Wie finden Sie es?“ Er hielt es hoch, als Querformat. „Also ich würde sagen, so hat es die beste Wirkung. Finden Sie nicht? Obwohl, Sie, als moderne Menschen, würden es eher so herum hängen.“ Er hielt es als Hochformat und fragte Silvia, die gerade gekommen war: „Was findest du? Sie würden es als moderne Menschen tatsächlich so herum bevorzugen.“ „Du hast recht, es hat so eine ganz eigene Wirkung.“ Ich nahm es und drehte es so um, daß der Tesafilm vorn war: „Wie wäre es so herum?“ Er besah sich‘s aufmerksam. „Tatsächlich – das wäre eine ausgefallene Lösung!“ Wir öffneten das Päckchen, die Zeichnung Beschwörung kam zum Vorschein. Zuerst, bemerkte er, hätte er sich für Unhaltbarer Zustand entschieden gehabt, aber das sei eben doch etwas gewagt, vor allem überm Ehebett, und daß es dorthin gehängt werde, sei selbstverständlich. Dann füllte er den Trauzeugenzettel aus, schrieb bei sich „Schriftsteller“ und bei Silvia „Malerin“. Zu ihr: „Das gibt dir Auftrieb.“ Zu uns: „Sie hat nämlich ein Bild begonnen, das dieses Jahr noch fertig werden könnte.“ Ohne Pause: „Haben Sie eigentlich schon Namen für das Kind ausgewählt?“ Wir zögerten. Die Namen hatten wir noch niemandem gesagt. „Für ein Mädchen Ulrike, für einen Buben Martin.“ Silvia hatte nicht verstanden, er wiederholte die Namen und meinte: „Genehmigt.“ Lachend gingen wir zum Auto. „Und von Ihrer Familie weiß es bisher niemand?“ „Niemand.“ „Wieso?“ Andrea erklärte. „Das müssen Sie uns erzählen – wie’s weitergegangen ist.“ „Wir machen die Hochzeit mit der Geburtsanzeige bekannt. Für den Text haben wir schon in Ihren Büchern gesucht und denken, wir nehmen den Max-Text, ab ‚Nicht übel wäre es auch, gar nicht erst geboren zu sein ...’“ Amüsiert: „Das wäre tatsächlich gar nicht übel.“ Ich fahre die berühmten Schleifen durch Tübingen, um in die Altstadt zu gelangen, endlich die Grabenstraße entlang ... „Ich würde vorschlagen“, er ließ einen Stoßseufzer los, „wenn wir zum siebzehnten Mal am Rathaus vorbeikommen, steigen wir einfach aus.“ Beim Einbiegen in die Lange Straße sah er sich um. „Hier waren wir tatsächlich noch nicht.“ Ich gebe zu bedenken: „Wenn man hier parkt, kostet es dreißig Mark.“ Er kontert: „Weiter vorn sicher mehr, aber da ist es dann auch schöner.“ Endlich parken wir vor dem Rathaus. Der Standesbeamte begrüßt uns nervös, es ist bald 15.45 Uhr. Wir warten vor dem Trauzimmer, während Hildesheimers Formalitäten zu erledigen haben. Schließlich kommen sie. Hildesheimer erzählt von Jens’ Geburtstag, Marcel Reich-Ranicki sei wieder brillant gewesen, und so ein aufgequollener Dichter, ich wisse wer, ach ja: Peter Härtling, rauche trotz Infarkt. Wenige Schriftsteller, viele Leute von der Universität, einer heiße Egidius Schmaltzried – ein toller Name. Ich erzählte vom Spott der Süddeutschen Zeitung über den fürstlichen Preis der Festschrift für den Hauptdemokraten Jens, und er wunderte sich: schließlich seien alle Beiträge kostenlos gewesen. Er rechnete noch, als der Standesbeamte kam, und schwieg erst unter der Tür zum Trauzimmer. Die Zeremonie lief ab. Der Beamte, jung, in Schwarz, hatte sich die Haare vorn grau färben lassen und war sichtlich bemüht, ernst zu wirken. Damit hatte er Mühe, weil wir die ganze Zeit feixten. Andreas Doppelnamen verursachte einen extra Verwaltungsaufwand. Hildesheimer flüsterte Silvia zu, das hätte es früher nicht gegeben, das sei fast ein echter Fortschritt. Hinterher sagte er zu Andrea, das sei beinahe ein Anlaß zu glauben, die Frau habe doch eine Seele. Außer endlosem amtlichem Kram gab der Beamte eine kurze Ansprache von sich, in der er die Ehe nach Klassifizierung eines Amerikaners in fünf Kategorien einteilte, die „gleichgültige Ehe“, die „gemeinschaftliche Ehe“, die „vitale Ehe“, die „totale Ehe“ und noch so etwas. Als wir hinausgingen, wunderte Hildesheimer sich, daß alles so kurz gedauert hatte, und lachte, als ich sagte, das sei kein Zufall, ich hätte gesagt, er solle es kurz machen. Dann fiel ihm das Luther-Jahr ein, er spottete über die Serie im Zeit-Magazin: er müsse sich überlegen, ob die Figur seines Hasses dieses Jahr nicht von Goethe zu Luther wechseln sollte. Vor dem Rathaus zog ich die Ringe aus der Hosentasche. Wir steckten sie uns an. „Das haben wir niemals getragen, nicht wahr, Silvia? Wir sind ja beide in zweiter Ehe verheiratet. Bei uns war damals Hans Werner Richter Trauzeuge. Hinterher gab es Ente, mit Rotwein, er ist schon beim Kochen eingeschlafen.“ Auf der Rückfahrt zum Hotel griff er den Kleinen Conti aus dem Handschuhfach. „Nach Hochzeiten lese ich immer aus dem kleinen Conti. Nicht wahr, Silvia?“ Schlug auf und las Verkehrsschilder vor: „Steinschlag, Schleudergefahr ...“ Nach einer Weile unterbrach er sich: „Ausgerechnet ein Amerikaner muß solche Klassifizierungen treffen. Typisch amerikanisch. Dabei gibt es viel mehr als fünf Gruppen. Das wäre eine Aufgabe für mich, einen Text zu schreiben, den man bei Trauungen vorträgt. Da gäbe es als erste Klasse die, bei der der Ehemann die Ehefrau am Tag nach der Trauung erwürgt.“ Nach einer Weile: „Was tun Sie, wenn es Zwillinge werden? Was nehmen Sie dann für Namen?“ „Wir kennen Ihr besonderes Verhältnis zu Namen ja, in diesem Fall fragen wir also am besten Sie.“ „Ausgezeichnet.“ Im Hotelhof hält er Silvia die Tür auf; die beiden nehmen sich vorsichtig in die Arme; Andrea stellt ihren Blumenstrauß hinters Auto, auf die Straße. Im Zimmer fragt er, was wir trinken möchten, weiß selbst nicht, was er will. „Nichts Alkoholisches, wir haben heute früh gesoffen wie die Löcher.“ Er telefoniert nach der Weinkarte. „Silvia, trinkst du auch eine Flasche?“ Als der Kellner kommt, bestellt er eine Flasche für alle. „Dann müssen wir nichts so Krebserregendes und Ungesundes trinken wie Saft.“ Wir hatten allerdings eine Flasche Rotwein mitgebracht. „Sie haben uns doch erzählt, wie Sie mit Küng bei Jens vergebens auf das Öffnen einer Flasche gewartet haben.“ „Ja.“ „Deshalb hier einen Korkenzieher, übrigens aus Poschiavo, sehr verbogen, weil wir auf der Piazza versucht haben, einen Veltliner zu öffnen, zu zweit.“ Den Rest des Mittags gingen wir den Ordner mit den Reproduktionen seiner Bilder durch. Er beantwortete meine Fragen nach Titeln, Techniken, Besitzern, obwohl Silvia sagte, sie seien müde und wollten noch etwas schlafen, ehe sie wieder zu Jens gingen. Silvia, mitfühlend zu Andrea, von Frau zu Frau: „Jetzt müssen Sie am Hochzeitstag arbeiten!“ Als wir durch waren, stand er auf und sah aus dem Fenster. „Das Auto ist noch da.“ „Die Blumen auch?“ „Auch die Blumen.“ Das war’s.
Irgendwann, ich bin sicher, kaufe ich auf dem Flohmarkt ein Basler Täubchen für einen Euro, weil die Buben, die das Album geerbt haben, gar nicht mehr wissen wollen, was das ist. Unterwegs zu diesem Zustand sind wir bereits. Auf dem vorletzten Flohmarkt gekauft: Handschrift eines katholischen Gebetbuches, Format 10 x 17 cm, schwarzgeprägtes rotes Maroquin, gepunzter Goldschnitt, zweifarbig handcolorierter Schmuckvorsatz, 86 unpag. Bl. dickes Bütten, Titel und Zwischentitel mehrfarbig geschrieben und mehrfarbig floral verziert, Normaltext schwarze Handschrift, jede Textseite von einer feinen schwarzen handgezogenen Doppellinie eingefaßt. Die Flohmarkthändlerin ist mir hinterhergerannt und hat erklärt, sie habe gesehen, daß ich am Nachbarstand nach alten Büchern geschaut hätte, sie könne mir auch etwas anbieten, und hielt dieses Buch hoch. In derlei Situationen sollte man nicht nur gelassen bleiben, sondern mäßig desinteressiert schauen, leicht gelangweilt, am besten ein wenig genervt. Auf meine verhaltene Frage, woher sie dieses Buch denn habe, erzählte sie: in ihrem Dorf wisse man, daß sie auf Flohmärkte gehe, und stelle ihr ab und zu eine Schachtel Bücher vors Haus. Dabei ist wohl der Haupttitel feucht geworden, er ist verwischt, aber schon der hier abgebildete zweite Haupttitel zeigt kaum noch Verwischungen, danach ist das Buch völlig in Ordnung. Okay, der Einband ist abgenutzt, der Goldschnitt nur noch zu ahnen, trotzdem: solcherart Handschriften sind rund zweihundert Jahre alt. Ich drückte mein Bedauern über das verwischte Titelblatt aus und fragte dann möglichst beiläufig, wieviel sie für das Buch haben wolle. Zwei Euro. Da handelt man natürlich nicht herum, sondern zieht die Münze aus der Tasche, weshalb sie, während sie kassierte, lässig hinwarf: „Ist mir doch egal, da haben Sie eben etwas zu Weihnachten geschenkt bekommen.“ Jawohl, das habe ich. Das hat nicht etwa die Musikhistorische Sammlung Jehle. Schließlich liegt die Entscheidung, ob ich meine glücklichen Funde behalte oder weiterschenke, allein bei mir. Und ich finde die verwaltungstechnische Regel „Einkaufswert gleich Versicherungswert“ abstrus. Nach dieser Regel müßte man nämlich auch behaupten, selbst die größten Stiftungen und Erbschaften seien nichts wert, da deren „Einkaufswert“ Null beträgt. Aber zum Glück hat dieses Gebetbuch mit Musik gar nichts zu tun.
Auf dem letzten Flohmarkt gekauft: Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung. Zweiter Theil. Dreizehnte vollständige und unveränderte Original-Ausgabe. Aarau 1829. Bei Heinrich Remigius Sauerländer. Einband an den Rändern aufgeschürft, sonst beinah wie neu, selbst der Rotschnitt glänzt noch. Einkaufswert: ebenfalls zwei Euro. Das Werk ist anonym erschienen, der Autor gab sich aber nach ein paar Auflagen zu erkennen: Johann Heinrich Daniel Zschokke (1771 – 1848). Man weiß auch, wann er diese Texte geschrieben hat, da sie erstmals 1809 – 1816 in einer Wochenschrift erschienen sind, ehe sie in 8 (!) Bänden herauskamen. So ein Band ist zwar handlich, aber keineswegs schmal. Ein (mein) Band hat rund 450 Seiten. Heute früh eine beliebige Stelle aufgeschlagen, Seite 179, und einen Text gefunden, der zu den Debatten über Europa und Ausländerfeindlichkeit paßt. Mit Bibel und Glauben hab ich’s nicht so, aber auch wenn man Gott außer Betracht läßt: daß Zschokke seinerzeit dermaßen Erfolg hatte – mein Band zeigt ja: offenbar sind von den 8 Bänden allein in den ersten 13 Jahren nach ihrem Erscheinen 13 Auflagen gedruckt worden, und so ist es durchaus noch ein paar Jahrzehnte weitergegangen – kann nicht wirklich geholfen haben. Sonst müßte man zweihundert Jahre später nicht immer noch predigen: „Verkleinere und bespöttele nicht das wahrhaft Gute, was andere Völker wirklich besitzen. Erkenne vielmehr willig die Vorzüge an, welche du bei ihnen findest. Denn gleichwie Gott jedem Lande eigenthümliche Vortheile und Nachtheile, so hat er auch jedem Lande eigenthümliche Anlagen und Kräfte verliehen. Ein durchaus verdorbener Mensch würde unfehlbar endlich durch sich selbst zu Grunde gehen müssen; eben so ein durchaus schlechtes Volk. Es würde ein solches, wenn eins vorhanden wäre, eher dein Mitleid erregen, als deinen Haß. In jeder Nation sind edle, tugendhafte Bürger; in jeder sind vortreffliche Eigenschaften zu finden, die deine Achtung verdienen. Aber auch in jeder sind, selbst in deinem eigenen Volke, schlechte Mitglieder, unwürdige Neigungen und Bestrebungen.“
(Auf Home von 21. 12. 2012 bis 12. 3. 2013)
Das Buch ist bei Shaker Media: die Erstauflage 2008, die zweite, ergänzte Auflage 2014, Ladenpreis 14,80 € – Sie finden das Buch unter Bücher, DVD, eBooksund dort auch einen Link zum Verlag
So will ich in mein Bettlein gehn, und all mein Werk soll ruhn. Zu meines Liebsten Wohlergehn, kann ich nichts Schön’res tun.
Dann streck ich meine Hände aus und bitt’ den lieben Gott, daß Er in Gnaden stillen woll all unsre Heimwehnot.
Zuletzt breit ich die Arme weit nach dem Geliebten aus, damit sein Seele und sein Leib in mir gelang’n nach Haus.
Und endlich deckt der milde Schlaf mich, Kindlein, gütig zu. – Vielleicht gönnt er auch diese Nacht Dir, Liebem, gute Ruh. –
am Abend des 9. IV. 40.
Ein exaktes Datum setzte Hanna Jehle (1916 – 1997) unter ein Gedicht nur, wenn ein besonderer Anlaß vorlag, den sie in diesem Fall aber eigentlich gar nicht kennen konnte. An diesem Tag, 9. April 1940, begann die Besetzung Norwegens. Martin Jehle (1914 – 1982) gehörte zu den ersten Soldaten, die mit dem Fallschirm über dem Flugplatz Oslo absprangen, mit einem Bus ins Zentrum fuhren und das Rathaus besetzten. Der genaue Termin war so geheimgehalten worden, daß selbst die Fallschirmspringer erst im Flugzeug erfuhren, daß es nun losgegangen war. Im Reich erfuhr man erst am nächsten Tag davon. Er hatte ihr allerdings zwei Tage zuvor, am 7. April, aus Döberitz
geschrieben: „Heute singe ich innerlich immer wieder ‚Solveigs Lied‘.
Vielleicht lerne ich die Heimat Ibsens u. Griegs bald beßer kennen.
Wundere Dich nicht wenn die Post einmal lange auf sich warten läßt.“ Ein paar Wochen später schrieb sie:
O, Mund, du roter, wozu blühest du? O, Hälslein, zartes, wozu schimmerst du? O, Brüstlein, weißes, wozu knospest du? O, Blut, du warmes, wozu klopfest du?
O, Kind. du großes – warum weinest du?
(Mai 1940)
Mit roter Tinte geschrieben und auf dem rechten Seitenrand vermerkt: „Laufen / im Mai 1940, / als mein Martin in Norwegen / gewesen ist." Im Mai war Martin Jehle längst nicht mehr in Oslo, sondern unterwegs nach Norden. Der Postweg – hin und her – dauerte zu dieser Zeit etwa drei Wochen. Am 27. Mai antwortete er: „O, Hannelein, / feines / warum zweifelst Du?“
(War aktueller Text der Homepage von 14. November 2007 bis 7. April 2008)
(Vorspann für die beiden Artikel im Zollern-Alb-Kurier am 7. und 14. 11. 2007:) Johannes Jehle eröffnete das Musikhaus Jehle in Ebingen (heute Albstadt) Anfang November 1907; der November 2007 bietet noch einen anderen Jahrestag: Martin Friedrich Jehle, Sohn des Johannes, starb am 14. November 1982, vor fünfundzwanzig Jahren. Diese beiden Jahrestage nimmt Volker Jehle, Sohn des Martin, als Anlaß, von beiden zu berichten. (Hier die ungekürzten Fassungen:)
Friedrich Martin Jehle (1844 – 1941) Pfarrer, Seelesorger, Bibelgelehrter, Dichter, Komponist, Musikhistoriker (Spezialgebiet: Hymnologie), Autor zahlreicher theologischer Bücher, Aufsichtsratsmitglied der Privilegierten Württembergischen Bibelanstalt, Ehrenmitglied der Londoner Bibelgesellschaft, Ehrendoktor der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen
Eigentlich beginnt es früher. Der Vater von Johannes Jehle, Friedrich Martin Jehle (1844 – 1941), war von 1885 bis 1897 Pfarrer an der Ebinger Martinskirche, ehe er – vor 110 Jahren – Stuttgarter Stadtpfarrer wurde.
Johannes Jehle (1881 – 1935) Orgelbauer, Organist, Komponist, Dichter, Musikalienhändler, Musikverleger, Dirigent, Musikhistoriker (Spezialgebiet: Liturgie), Vortragsreisender, Gründer des Musikhaus Johannes Jehle
Rötelzeichnung von Friedrich Wedel aus dem Jahr 1934
Johannes Jehle wurde 30. März 1881 geboren. Seine Mutter starb im Kindbett, er wurde auf ihrem Sarg getauft. Nachdem sein Vater vier Jahre später Pfarrer in Ebingen geworden war, lebten Johannes und seine Geschwister im Ebinger Pfarrhaus, ungefähr da, wo heute die Kirchgrabenschule steht. Eigentlich hätte er Pfarrer werden sollen, spielte lieber Harmonium, schaffte prompt das Landexamen nicht und wurde zu Christian Ludwig Maag ins Comptoir gesteckt, was er nicht aushielt. Er wechselte ins Comptoir der Orgelbaufirma Weigle, dann ins Fach des Orgelbauers bei der Firma Link in Giengen an der Brenz. Nachdem er in der Schweiz so gut Französisch gelernt hatte, daß er Wilhelm Busch übersetzen konnte, verschwand er 1903 für ein knappes Jahr nach Frankreich und arbeitete u. a. in Lyon bei Maroky, wo er die Klaviernoten dieses Verlags so vorzuspielen hatte, daß die geschätzte Kundschaft kaufte. Den Sommer über wollte er in Bordeaux arbeiten. Ob es ihm gelungen ist, weiß man nicht, in diesem Sommer verliert sich seine Spur. Am liebsten sehe ich ihn als Barpianist, am besten etwas weiter südlich, Arcachon oder Biscarrosse. 1905 gehörte er – sehr respektabel – zu den Gründungsmitgliedern der Harmoniumfabrik Kaim & Sohn in Augsburg und übernahm als geschäftsführender Mitgesellschafter die Leitung. 1907 widmete er seinen Marsch für Klavier solo Fuchtlos und treu der Herzogin Wera von Württemberg, bekam dafür eine goldene Busennadel verliehen, erhielt aber auch den Auftrag, den Marsch für das Trompeterchorps des Ulanenregiments spielbar zu machen, dessen Chef die Herzogin war, weshalb er die Musik in 36 Einzelstimmen setzte. Woher er die dazu notwendige musikalische Kompetenz bezogen hatte, ist unbekannt. Die Einzelstimmen erschienen bei Böhm in Augsburg; die Fassung für Klavier aber ist die erste Publikation des Musikverlags Johannes Jehle. Ende Oktober 1907 gründete er in der Ebinger Marktstraße Nr. 16 (Haus von Karl Wehinger) das Musikhaus Johannes Jehle. Grundlage war die Zuteilung eines Stimmbezirks der Orgelfirma Link, d. h. er stimmte und reparierte Orgeln und Harmoniums, gebaut hat er keine. Außerdem stimmte und reparierte er Klaviere, reparierte und verkaufte Kleininstrumente, handelte mit Zubehör und Noten, später auch mit Schallplatten. Im Laden half seine Stiefschwester Frida, Tochter aus zweiter Ehe Friedrich Jehles, am 22. August 1887 in Ebingen geboren. Dem Markstraßenbrand am 7. Januar 1911 fiel auch das Musikhaus zum Opfer. Bereits zum 1. Februar 1911 kaufte Johannes Jehle das Haus Nr. 594, die spätere Untere Vorstadt 15. Frida stand wieder im Laden, bis sie 1912 dem Arzt der Liebenzeller Mission Dr. Ernst Witt als Frau nach China geschickt wurde. Im Jahr darauf heiratete Johannes Jehle Bertha Schmidt (1887 – 1980). Noch während des Ersten Weltkriegs bereitete er den ersten Teil seines Geistlichen Gesangbüchleins vor (Teil I: 1918, Teil II: 1921). Spätestens 1918 rekrutierte er aus dem Ebinger Jungfrauenverein einige Sängerinnen, um seine Kompositionen zu probieren. 1920 übernahm er den Chor des Jungefrauenvereins und Mitte der zwanziger Jahre den Männerchor des Jünglingsvereins (CVjM), den Probechor behielt er bei und lehrte dort Singen mit Hilfe von Instrumenten, wie sie später auch Carl Orff dazu einsetzte. Die Reihe der Komponisten, die ab 1918 in seinem Verlag publizierten, ist lang. Er selbst komponierte unter seinem eigenen Namen und unter drei Pseudonymen. Sein Sammelband Gott ist mein Psalm (1928) ist bis heute in Gebrauch; die Choralsätze darin stammen nahezu ausnahmslos von ihm. Den Cantus Firmus eines der Lieder spielen demnächst wieder alle vier Glocken der 1926 erbauten Esslinger Südkirche. Seine Kompositionen und Dichtungen erschienen in zahlreichen Lieder- und Gesangbüchern. Das Dichten war allerdings eher Sache seines Vaters: „Doch Heimatstadt, im Schmiechatal so wonnesam gebettet, / dich grüßen wir viel tausendmal, in Lieb an dich gekettet. // Wohin wir ziehn durch Stadt und Land, zu dir zieht es uns wieder. / O Heimatflur in Gottes Hand, dir weihn wir unsre Lieder.“ Worte von Friedrich Jehle, Musik von Johannes Jehle, entstanden 1924. Mit den Kindern kickte er auf der Unteren Vorstadt, seine Tochter Johanna sagt: „Gewiß hätte das von den Ebinger Honoratioren sonst keiner getan.“ Er war Festorganist (z. B. bei der Einweihung der Bitzer Kirche 1927), Vortragsreisender (über liturgisch-kirchenmusikalische Themen), als Pionier der Singbewegung veranstaltete er Singwochen in ganz Württemberg (die letzte 15. – 21. Oktober 1928 in Ostdorf), er bildete Musikalienhändler aus, stellte Instrumententechniker ein, schöpfte hin und wieder in Kloster Beuron Atem (mit den musikalischen Mönchen war er befreundet). Anfang Dezember 1928 erlitt er einen Schlaganfall und saß fortan im Rollstuhl, zunehmend gelähmt. Johannes Jehle starb am 21. März 1935.
Martin Friedrich Jehle zum 25. Todestag
Martin Friedrich Jehle (1914 – 1982) Klavierbaumeister, Musikalienhändler, Obermeister der Würt- tembergischen Instrumentenmacher, Dirigent, Leiter des Chors der Friedenskirche Ebingen, Musikhistoriker (Spezialgebiet: Musikinstrumente), Buchautor, Vortragsreisender, Gründer der Musikhistorischen Sammlung Jehle (heute Stauffenberg-Schloß Lautlingen) und der Pianofortefabrik Jehle Ebingen (bis 1981)
Fotografie aus dem Jahr 1981
Martin Friedrich Jehle, ältestes Kind und einziger Sohn von Johannes Jehle, am 3. Januar 1914 in Ebingen geboren, war ab 1928 Volontär bei der Ebinger Möbelschreinerei Johannes Grotz, ab 1929 machte er eine Lehre zum Klavierbauer bei der Firma Karl Hardt in Stuttgart, blieb nach der Gesellenprüfung (1931) aber in Stuttgart, arbeitete in der Pianoteile-Fabrik Louis Renner und der Harmoniumsabteilung der Klavierfabrik Schiedmayer, besuchte nebenher das Konservatorium für Musik und hätte viel lieber Musik studiert. Wegen der Krankheit seines Vaters wurde er nach Ebingen zurückbeordert und begann am 1. Oktober 1932 im Musikhaus als „Klaviertechniker“. In den dreißiger Jahren, erzählt die Familienlegende, wurde er ins Schloß Lautlingen gerufen, wenn bei der Hausmusik der Stauffenbergs das Cello (das sonst Claus spielte) nicht besetzt war. Er wußte also aus eigener Anschauung, wovon er sprach, als er 1977 im Zollen-Alb-Kurier (Ebingen) eine dreiteilige Studie über Musik und Stauffenbergs veröffentlichte. Legendär auch seine Radtouren nach Köln und Berlin, oder mit Musikdirektor Hermann Stern kurz vor Kriegsausbruch auf dem Motorrad nach Prag. Auf dieser Reisen fand er in Markneukirchen den später international berühmten Geigenbauer Herbert Moritz Mönnig, der ab 1934 im Musikhaus arbeitete. 1937 stellte er den Klaviertechniker Gerhard Binnas ein, Anfang 1939 den Blechblasinstrumentenbaumeister Emil Bagus, vermutlich hatte er bereits Klavierbaupläne, aber im August 1939, ein paar Tage nach dem Besuch der Salzburger Festspiele, mußte er einrücken. Am 9. April 1940 war er bei der Besetzung von Oslo dabei. Zur Hochzeit mit der Lehrerin Hanna Seeger, kirchliche Trauung am 17. Juni 1942 in der Ebinger Kapellkirche, reiste er von einem Fjord hinterm Nordkap an. Schon 1934 hatte er das erste historische Tasteninstrument gekauft, in Norwegen suchte er weiter, tollster Fund: eine Geige der Gebrüder Amati. Mit den Modalitäten der Bezahlung und des Transports der Instrumente war die ganze Kompanie beschäftigt. Außerdem nahm er an zwei Singleiterkursen teil (einer unter Leitung von Hans Baumann) und gründete an jedem Standort einen Soldatenchor. Den Part des Pianisten übernahm er bei Aufführungen selbst, er soll phantastisch improvisiert haben. Nach einem Zwischenspiel am französischen Atlantik wurde er am 10. November 1943 bei der Schlacht von Fastow (bei Kiew) verwundet und behielt zeit Lebens einen steifen rechten Ellbogen und steife rechte Finger. Mitte Mai 1945 nahm er die Arbeit als Chef des Musikhauses auf, den Namen "Musikhaus Johannes Jehle" behielt er bei. Umgehend begann er mit der Organisation von Konzerten, die ersten 1945 bis 1952 im Neuen Vereinshaus: die „Reihe wertvoller Musik“, Eintritt zunächst: ein Holzscheit oder Brikett. Die Reihe der Musumskonzerte, die er ab Mitte der sechziger Jahre organisierte, wird bis heute fortgesetzt. Am 1. Mai 1946 zählte er zu den Gründern der CDU-Ortsgruppe Ebingen; 1946 bis 1951 war er CDU-Kreisvorsitzender, 1956 wurde ihm die Adenauer-Gedenkmedaille verliehen; 1980 das Bundesverdienstkreuz. Ab 1947 hielt er Vorträge über musikgeschichtliche Themen, immer wieder an der Ebinger Volkshochschule oder zu besonderen Anlässen im Rathaus, in der Festhalle, aber auch im Schloß auf der Mainau oder in der Kongreßhalle Berlin. Spätestens 1947 hatte er im Musikhaus ein Zimmer eingerichtet, in dem er nebst alten Musikinstrumenten die musikalischen Nachlässe seines Vaters und Großvaters verwahrte – die Urzelle der Musikhistorischen Sammlung Jehle. 1964 präsentierte er die Sammlung im obersten Stock des Ebinger Rathauses, 1975 verkaufte er sie der Stadt Albstadt, seit 1977 wird sie im Lautlinger Schloß gehütet, betreut von seiner ältesten Tochter Ursula Eppler, die letzten Samstag in Gabriele Trosts Stauffenberg-Dokumentation im SWR zu sehen war. 1948 übernahm er den Chor der Friedenskirche: liturgische Gottesdienstbegleitung, jährliche Singwochen, große Konzerte mit Orchester und Solisten, zu denen ganz Ebingen pilgerte. Unvergessen die Weihnachtsmusiken in der Friedenskirche, jedes Jahr am Erscheinungsfest. 1977, nach Differenzen mit dem damals amtierenden Pfarrer, löste er den Chor auf. In der Festschrift zum 75jährigen Jubiläum der Friedenskirche 2007 wird er nicht einmal erwähnt. Die Einstellung des ersten Lehrlings (zum 1. August 1949) war de facto die Gründung der Pianofortefabrik Jehle, zunächst im Hinterhaus der Fabrik Linder & Schmied in der Schmiecha-straße, ab 1956 in den zwei unteren Stockwerken der Farbrik Hugo & Erwin Blicke in der Ried-straße. Bereits ab 1949 war er Innungs-Obermeister der Musikinstrumentenmacher-Innung Reutlingen, später Obermeister der Baden-Württembergischen Musikinstrumentenmacher, ab 1981 Ehrenobermeister. Seine Klaviere und Flügel lieferte er weltweit, sein Schrankflügel war die Sensation der Frankfurter Frühjahrsmesse 1967.
Peter Jehle (1948 – 1999) Musikalienhändler, Gitarrist, Liedermacher, Organisator von Konzerten in Albstadt, letzter Chef des Musikhauses (1975 – 1987)
1975 übergab er das Musikhaus seinem ältesten Sohn, Peter, behielt die Klavierfabrik aber und firmierte „Jehle KG“, schloß dieses Kapitel einer im Umfeld von Schlupfhosen eher extravaganten Ebinger Firmengeschichte aber im März 1981 endgültig ab (Peter hatte das Musikhaus in "Musikhaus Peter Jehle" umbenannt, 1987 schloß auch das Musikhaus). Martin Friedrich Jehle kam Mitte 1982 wegen Diabetes ins Krankenhaus, zuerst Ebingen, dann Tübingen. Das Erscheinen seines Buches Württembergische Klavierbauer des 18. und 19. Jahrhunderts Ende Oktober 1982 nahm er noch zur Kenntnis. Martin Friedrich Jehle starb am 14. November 1982 in Tübingen.
Das Ulrike-Manuskript war ursprünglich etwa doppelt so dick. Jede Nebenfigur hatte ihre eigene Geschichte; Ulrike wurde in vielen weiteren Szenen gezeigt, in denen sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen umgeht bzw. umspringt; vor allem wurde Eckart (die heimliche Hauptfigur in Buch und Film) ganz andes gezeigt: als junger Zivi agierte er, erzählte aber aus einer zeitlichen Rückschau von rund zwanzig Jahren, kommentierte, spannte den Rahmen, hob das Geschehen auf eine überzeitliche Ebene – das Ewiggleiche im Besonderen, die griechische Tragödie. Hier ein Auszug aus der ersten Manuskriptfassung, kurz nach Beginn des Buches:
In Eckarts zweiter Woche hatte Porzig Urlaub. Alle atmeten auf. Eckart nutzte die Gelegenheit, denn Ulrike saß zufällig ruhig bei ihrer Arbeit, näherte sich vorsichtig und erklärte, ihre Ausbruchsversuche seien jetzt sinnlos. Sie sah ihn an, als habe sie ihn noch nie gesehen, zweifelnd und zögernd, machte wortlos eine ungeduldige Handbewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen, und beachtete ihn nicht mehr.
Früher, sagt Eckart und lehnt sich zurück, habe er behauptet, nur wer durch diese Schule gelaufen sei, habe überhaupt etwas zu sagen. Heute sei er sich da nicht mehr sicher. Er spreche nicht mehr oft davon. Aber da gebe es noch Mappen voll von Zetteln, Gemälden, Briefen, Fotos. Er habe keinen einzigen Fuzel weggeworfen. Er höre aber sofort wieder auf, wenn ich noch einmal von so einer Scheiße wie dem wieder- vereinigten Deutschland anfangen würde. Einer, er wisse genau wer, schreibe irgendwo, „Heil Hitler!“ sei ein kategorischer Imperativ. In Wirklichkeit sei’s eine kategorische Vergeblichkeit. Die Mauer stehe noch, höher und breiter denn je. Eckart tippt sich an den Kopf. Neulich seien Tomek – ein Achtelsdeutscher, geboren nach dem Krieg in Sczcecin –, eine Deutsche – geboren vor dem Krieg in Stettin – und er – wider Willen ein Vertreter jener Idioten, die diesen Mist angerührt hätten – hinausgefahren zum toten Haff. Die Deutsche habe seit der Flucht ihr Heimatdorf zum ersten Mal besucht, Tomek habe sich als Dolmet- scher zur Verfügung gestellt und er – Eckart – sei der Chauffeur gewesen. Die alte Schule, das Haus des Großvaters, das Haus ihrer Eltern, Häuser der Kindheit, die geschnitzten Holztüren windschief, die Scheiben zerbrochen, die offenstehenden Keller bis unter die Decke voller Schutt und Gerümpel, die Gärten erledigt, viele Häuser überhaupt verschwunden, Baumaterial für die nahegelegene Fabrik, der Friedhof auch verschwunden, zugewachsen. Die Dorfstraße unter Bäumen öde, kein Bus, kein Auto, kein Mensch, nicht einmal ein Hund. Gespenstische Stille. Plötzlich sei aus dem letzten Haus ein alter Mann gekommen und habe sich neben sie auf die Straße gestellt. Die ehemals weiße Jacke mangels Knöpfen offen, der Trommelbauch von einem Kleidungsstück, das gewiß seit Monaten nicht abgelegt worden war, kaum be- deckt, die löchrige verkrustete Hose von breiten Trägern mühsam hochgeschnallt, der Hosen- bund viel zu weit, ein freier Blick an der schmierigen Unterhose den Beinen entlang auf die ausgetretenen Latschen, im Gesicht lange weiße Stoppeln, und ein Zahnverhau daß Gott erbarm, die rechte obere und linke untere Reihe weg, der Rest gelb und schwarz, in alle Richtungen. Tomek hätte sich vor Scham am liebsten verkrochen, der alte Mann aber habe nur Augen für die Deutsche gehabt, habe sein Zahnverhau in ein breites Lächeln gezwängt, die Hand auf die Reste des speckigen Unterhemds gepreßt und mit einem Gefühl, dem tiefsten, das er wohl aufbringen konnte, gesagt: „Heimweh“. Breit grinsend habe er geradebrecht, wie sie nach dem Krieg rings um alle Häuser im Boden gestochert hätten – er habe die Länge der eisernen Stäbe genau angegeben –, die Ausbeute sei mickrig gewesen, Porzellan, vielleicht ein bißchen Zinn. Wie schön die Gärten hier gewesen seien, welch wunderschöne Häuser man abgerissen und daß man die Allee aus Ebereschen abgehackt habe, um die Straße zu begradigen. Er sei, man habe ihn kaum verstanden, hier zwangsangesiedelt worden, geboren sei er in der Nähe von Königsberg, im letzten Jahr habe er zum ersten Mal wieder sein Heimatdorf besucht. Wieder habe er seine Hand aufs Herz gepreßt, „Heimweh“ gesagt und sei in seine verlotterte Bruchbude zurückgeschlurft. Eckart schließt die Augen. Pause. Alle Geschichten wiederholen sich. Wenn ich also wolle, werde er die ganze Sache ein- mal aufrollen, ungeschminkt, was bedeute: auch die eigenen Irrtümer und – teils bösen – Fehler einzuräumen, exemplarisch natürlich, drunter mache er’s nicht. Da ich demnächst Zivi sei und da Zivis heutzutage offenbar anders seien, könne ihnen – er lächelt hinterhältig – ein leuchtendes Vorbild aus alten Tagen jedenfalls nicht schaden. Allerdings bestehe er darauf, daß er schon damals nicht war, wie andere waren. Aber das könne er ja mir „zur Beurteilung anheimstellen“, wenn ich wolle. Dann krame er bis mor- gen abend das alte Zeug hervor. Er legt die Fingerspitzen gegeneinander. Pause. Schätzungsweise sieben Abende müßten wir uns um die Ohren schlagen, dann sei ich getauft und konfirmiert. Deshalb sollten wir am besten gleich beginnen, denn spätestens nächsten Sonntag – wieder lächelt er auf seine versteckte Art – gedenke er zu ruhen.
Porzig hatte also Urlaub. Ulrike blieb an der offenen Tür stecken, zerrte und nestelte aber nicht, sondern lauschte aufmerksam nach draußen. Nach einiger Zeit senkte sie den Kopf und starrte zu Boden, stand reglos neben Tisch und umgekipptem Stuhl. Keiner beachtete sie. Eckart näherte sich ihr, zum zweiten Mal überhaupt, und diesmal besonders vorsichtig. „Glaubst du jetzt, daß Porzig nicht da ist?“ Sie nickte stumm. „Gehst du an deinen Platz zurück?“ Sie nickte. „Bleibst du auch dort?“ Sie nickte heftig. „Soll ich fragen, ob du nicht mehr angebunden sein mußt?“ Unvermittelt hob sie den Kopf und sah ihn an. Jetzt, dachte er, sieht sie mich zum ersten Mal. Plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus, schüttete sich geradezu aus vor Lachen, und brachte unter Prusten und Kichern heraus: „Die Ulrike ist ein Lumpentier!“
(Hardcover, Taschenbuch und Neuauflage 2006 können Sie unter Bücher, DVD, eBoooks anschauen, falls Sie die Neuauflage 2006 kaufen möchten, nehmen Sie Kontakt auf)
Überarbeitet erschienen in: Hubert Klöpfer zum 60sten. Eine Festschrift. Redaktion: Petra Wägenbaur. Tübingen 2011, S. B83 – B75.
Das Buch
Bei meinem Zivildienst, lang ist’s her, war in meiner Gruppe ein Mädchen, ein höchst explosiver Mensch, aber ungeheuer hinreißend. Die Emotio stand meilenweit über der Ratio, vom Intellekt her war sie etwa, wie man eben unbedacht so sagt, auf dem Level eines dreijährigen Kindes. Sie wohnte zu Hause, und wenn sie abends nicht ins Bett gehen wollte, warf sie die Matratze aus dem Fenster. So benahm sie sich auch in unserer Werkstatt. Ihre Zuneigung zeigte sie ebenso unverblümt, dann küßte sie drauflos, wohin sie traf. Außerdem hatte sie erkannt, wie hilflos die Leute sind, wenn sie sich auszieht – da flog die Unterwäsche übern Zaun zum Nachbarn. Schon damals, Mitte der siebziger Jahre, sagte ich zu ihren Eltern: über sie schreibe ich einmal ein Buch, notierte ihre wunderschönen poetischen Aussprüche auf allerlei Zettel, meist hastig, weil die nächste Explosion drohte, wie stets, wenn ihr was nicht paßte, und es paßte ihr nicht viel. Rund 15 Jahre später, kurz vor der Arbeit an Hildesheimers „Gesammelten Werken“ (Suhrkamp 1991), begann ich „Ulrike“ zu schreiben: die Liebesgeschichte zwischen der geistig behinderten Ulrike und dem gleichaltrigen Zivi Eckart. Der Anstoß zum Buch liegt also im Autobiographischen. Doch eine Figur wie Ulrike sperrt sich auch gegen die gefällige Vereinnahmung durch den Autor. Wenigstens folgte sie mir beim Schreiben so weit, daß ich sie irgendwann frei sprechen lassen konnte. Was im Buch daherkommt wie fotorealistische Abschilderung, ist sorgfältiges Kunstprodukt. Kein Mensch erinnert Dialoge nach so langer Zeit wörtlich. Während der zweieinhalb Jahre Arbeit an Hildesheimers „Gesammelten Werken“ ruhte "Ulrike". Danach schrieb ich das Buch fertig und kassierte eine bestsellerverdächtige Latte von Absagen, einmal an ein und demselben Tag bis auf ein einziges Wort identische Briefe aus Hamburg und Zürich, aber auch ungestellt: ein Verleger teilte mit, er könne nicht einmal prüfen, ob das Manuskript etwas tauge, er könne es nämlich gar nicht erst lesen, er ertrage das Thema nicht. Hubert Klöpfer vom Klöpfer & Meyer-Verlag sagte „kürzen“, das halb so dick gewordene Manuskript druckte er, das Buch kam 1996 heraus, 2001 erschien es mit ungeliebtem Untertitel als Nummer 3121 in der Serie Piper. Diesen Sommer (2005) verramschte zuerst Klöpfer & Meyer das Hardcover (nachdem es unglaubliche 9 Jahre im Programm gehalten worden war) und drei Wochen später verramschte Piper das Taschenbuch. Der Film kam also in die Kinos, das Buch war nicht mehr lieferbar. Ich habe die Restauflage des Hardcovers und ein Drittel der Restauflage des Taschenbuchs aufgekauft und nach den Premieren angeboten. Vier Monate nach dem Kinostart waren die Bücher wegDeshalb habe ich auf eigene Kosten eine Neuauflage drucken lassen, 2. unveränderte Auflage. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2006 (broschiert), ISBN 3-937667-79-2, empfohlener Ladenpreis 15 €. Dafür habe ich zwar einen Kredit aufnehmen müssen, aber wenigstens ist das Buch seit 3. Mai 2006 wieder lieferbar. Wer’s über mich kauft, zahlt 1,40 € für Porto und Verpackung, bekommt das Buch aber auf Wunsch signiert oder persönlich gewidmet.
Das Drehbuch
Mein Drehbuch wurde 1999 mit ein paar anderen Drehbüchern zum 1. Baden-Württembergischen Drehbuchpreis nominiert. Der Sieger sollte erst am Abend der Preisverleihung in Heckers Hotel bekanntgegeben worden, kleines Event am Rand der Berlinale. Oliver Storz hatte mich aus der Jury-Sitzung heraus anrufen wollen, aber im falschen Geislingen gesucht, nämlich nicht in dem bei Balingen, sondern in dem an der Steige, sagte aber noch in der Laudatio auf den Sieger, „Ulrike“ sei sein spezieller Liebling. Nachdem ich den Preis also knapp verfehlt hatte, fuhr ich weiter zu einem Freund nach Stettin. Keine 24 Stunden später war mein Auto geklaut. Irgendwie ungerecht. Leo Hiemer aber, der „Allgäuer Kultregisseur“ („Daheim sterben die Leut’“, „Leni“ etc.), hatte das Buch rechtzeitig gelesen. Am Tag vor der Preisverleihung hatten wir uns in einer Berliner Kneipe getroffen und einen Optionsvertrag geschlossen. Womit der jahrelange Marsch durch die deutsche Filmförderung begann und ich einen Agenten verloren hatte. Der hatte nämlich geraten, ich solle auf keinen Fall irgend etwas unterschreiben. Nun meinte er, wenn ich schon seinen ersten Rat nicht befolge, könne er mich natürlich nicht vertreten. Leo versicherte seine Hochachtung vor einem Autor, der es ertrage, sein jahrelang gereiftes Material noch einmal zum Spiel freizugeben, und spielte los. Doch schon beim ersten Besuch in Detmold, wo er da noch wohnte, sagte ich ihm, wenn er Ulrike sprechen lasse, werde mir übel. Daran hielt er sich eisern und legte Ulrike keinen einzigen Satz in den Mund. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar. Auch dafür, daß er nicht, wie der erste Regisseur, der den Stoff verfilmen wollte, auf einem Happy End betand. Mit Happy End wäre es eine andere und keinesfalls meine Geschichte. Die Drehbucharbeit, auch mit Kameramann (DOP) Marian Czura, war spannend. Leo hat vor allem an den Stellen des Drehbuchs mitgearbeitet, in der die Geschichte auf den heutigen Standard sozialer Einrichtungen gebracht wird und volontierte dazu extra in einer Behindertenwerkstatt. Schließlich sollte die Geschichte heute spielen, und zwar in einer WfB (Werkstatt für Behinderte), d. h. wir hatten vor, die Hauptrollen mit Schauspielern zu besetzen, den Alltag einer WfB aber wie selbstverständlich die Behinderten selbst spielen zu lassen und ihnen, wenn möglich, sogar kleine Sprechrollen zu geben. Das gelang und war wunderschön, für alle, auch wenn es dem Regisseur die Arbeit erschwerte. Doch inzwischen zitiert Leo nach Premieren zustimmend, was eine der „echten“ Betreuerinnen nach Drehschluß zu ihm gesagt hatte: „Als ihr mit dem Drehen angefangen habt, da waren’s für euch Behinderte, und jetzt sind’s für euch Menschen.“
Die Dreharbeiten
Was ich nicht gewußt hatte: der Autor am Set ist immer das Arschloch. Ich war also bei den Dreharbeiten im August/September 2002 in den Magnus-Werkstätten Holzhausen bei Buchloe und bei den Außenaufnamen im Ostallgäu ständig dabei. Zuletzt waren alle froh drüber, vor allem ich. Im Buch schmeißt Ulrike zum Beispiel Zeug aus einem Lagerfenster im zweiten Stock, am Drehort gab’s aber kein Lager im zweiten Stock, und in dem Lager, das da war, gab’s nur ein Oberlicht. Hätte ich das nicht selbst gesehen, hätte ich gewiß gemotzt – meine Ulrike hätte einen so abenteuerlichen Turm niemals besteigen können. Außerdem: was im Buch im Ruheraum spielt, spielt im Film im Snoezelen-Raum: Wasserbett, schummrige Musik, Lichtspiele, gefundenes Fressen für einen aufs Optische konzentrierten Filmemacher. Die Hauptdarstellerin Anna Brüggemann wollte - selten zwar, dann aber dezidiert - manche meiner Sätze nicht wörtlich sagen. Zuerst Ärger, dann die Einsicht: sonst wäre sie unglaubwürdig geworden. Dabei war sie ein Glückstreffer. Meine Frau kam einen Tag an den Set, hatte Anna noch nie gesehen, sah sie und sagte: das ist Ulrike. Stimmt. Auch wenn Anna sich auf keinen Fall ausziehen wollte. Ulrike konnte überhaupt nicht verstehen, was daran umwerfend sein sollte, Anna schon. Hätte Anna sich ausgezogen, hätte das etwa so gewirkt, wie sie im Schwimmbad vom Beckenrand ins Wasser geht: Ulrike nahm nicht einmal zur Kenntnis, daß nun Wasser kommt, Anna aber macht einen größeren Schritt. Eben. So fehlt von den vielen Zügen Ulrikes schließlich nur ein einziger: das „Urweib“, die Frau an sich, der Eckart als Mann an sich gegenübersteht: die griechische Tragödie. Schließlich geht’s nicht um eine nette Geschichte im Behindertenmilieu, sondern um die Liebe. Annas Ulrike ist leichter, klüger, mädchenhafter, aber ausgezeichnet. Denn es ist trotzdem keine nette Geschichte im Behindertenmilieu geworden, sondern ein Lehrstück in Sachen Liebe. Das ist natürlich nicht nur Annas Verdienst (Julian Hackenberg als Eckart nicht zu vergessen!), sondern auch Leo Hiemers, der einen feinen, nachdenklichen und nachdenkenswerten Film inszeniert hat. Jedenfalls gibt es nun meine Ulrike, Leo Hiemers Ulrike und Anna Brüggemanns Ulrike. Mit unterschiedlichen Mitteln dasselbe Ziel erreicht. Hut ab! Nur einen anderen Titel hätte ich gewählt. Unmöglich, der Verfilmung von „Das Parfüm“ einen Titel zu geben wie „Komm, wir schnuppern!“ Drehbuch und Film sind, handwerklich gesehen, Teamwork. Da zieht man sich als Autor am besten auf die Basis zurück: das Buch war meine Sache, der Film ist Sache des Regisseurs. Aber womit ist ein Autor eigentlich wirklich zufrieden? Besser man fragt ihn nicht so genau –
Der Film
Schon das Buch war Dichtung und Wahrheit, dann kam der Film dazu. Günter Eich schreibt in einem Gedicht, Erinnern sei eine Art des Vergessens. Das kann ich bestätigen: ich weiß längst nicht mehr, was ich als Zivi tatsächlich erlebt habe. Natürlich gibt’s da immer noch ein paar Fotos und die Zettel mit den Sprüchen. Einer der schönsten Sprüche (Ulrike sprach und spricht von sich in der dritten Person): „Sie mag dich – da hast du deinen Dreck.“ Da lacht der ganze Saal. Nur ein einziger Spruch geht unter. Ulrike will Eckart besuchen, er sagt, das sei zu weit, das lohne sich nicht, und sie widerspricht: „Das lohnt sie.“ Die Leute meinen wohl, es solle „sich“ heißen. Schade eigentlich, denn genau diese „Belohnung“ ist gemeint. Einer der wichtigsten Sprüche, der übrigens schon seit Jahren selbständig durch’s Internet geistert, stammt allerdings gar nicht von Ulrike, sondern von unserem Sohn Martin. Dem habe ich damals – er war vier oder fünf Jahre alt – erzählt, was für ein Buch ich gerade schreibe und wie diese Frau redet. Er nickte verständnisvoll und nannte als „Beleg“ seines Verständnisses: „Dein Kopf tut mir weh.“ Dieser Satz ist letztlich unauslotbar, in ihm steckt alles. Mit ihm bricht im Buch das Erzählen ab, weil Eckart, der Erzähler, schwört, ab da sei er nicht mehr dabeigewesen. Im Film ist das konsequenterweise Ulrikes letzter Satz. Da lacht niemand mehr.
Zeltplatz bei Kennett River
Lizzard 2 Meter lang am Waldrand hinter Pebbly Beach, New South Wales
Wald über Kennett River
2 der "12 Apostles", über 50 m hoch, die beiden abseits stehenden, von Gibson Beach aus gesehen